Zukunftszugang via Attitude-Branding
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Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
– Max Frisch
Ja, lieber Max Frisch. Klingt ganz gut. Aber wie?
Versuchen wir’s mal. Als Markenexperten fokussieren wir uns dabei auf die Rolle, die Marken als produktive Zukunftsgestalter spielen können. Soviel sei schon verraten: Ohne Haltung geht es nicht. Und das neue Zauberwort heißt „Zukunftszugang“.
Aber schauen wir zunächst zurück, um daraus abzuleiten, wie wir vorankommen:
Früher war mehr Lametta …
Wir beobachten Marken und Menschen schon eine ganze Weile. Genauer gesagt seit 1990, unseren gemeinsamen Studientagen. Damals wurde uns einiges eingetrichtert, was heute nicht mehr oder nur noch teilweise gilt: Marken hatten „bigger than life“ und begehrenswerte Leuchttürme zu sein. Sie konnten Ansagen machen und das schöne Leben vorturnen. Sie sollten Nutzwert, aber vor allem Mehrwert offerieren. Und ganz wichtig: Der USP, die Unique Selling Proposition.
Dann kamen Provokation und Sozialisation
Benetton erfand seine Schock-Kampagne. Das funktionierte gut, solange es sich um gesellschaftliche, veränderbare Missstände handelte. Und schlecht, wenn als „l’art pour l’art“ archaische Tabus instrumentalisiert wurden. Marken begannen, von ihrem Thron herab zu steigen. Sie wurden sozialer und „social“. Sie räumten ihren Konsumenten als „Prosumenten“ mehr Macht ein. Sie wurden breiter in ihren Markenführungs-Disziplinen von Product über Corporate bis Employer Branding. Und nicht zuletzt wurden Marken – manche freiwillig, andere eher gezwungenermaßen – nachhaltig.
Und jetzt? Zeit für Attitude-Branding!
Wir haben untersucht, wie Marken in der Krise fass- und steuerbar gemacht werden können. Und haben, inspiriert von unserer BCG-Matrix-Vergangenheit, die „Attitude-Branding-Matrix“ entwickelt.
Die Attitude-Branding-Matrix enthält vier HeadHacks, die Marken in der Krise für sich – und ganz wichtig für uns alle, denn sonst funktioniert es nicht! – nutzen können:
1. „Zukunftszugang“ ist der zentrale Marken-Wert von morgen
Die vertikale Achse zeigt, wie es aufwärts geht. Und zwar, indem wir uns daran erinnern, dass Marken zwar in einer Marktwirtschaft agieren – aber mit dem Zusatz des „Sozialen“. Na klar, wenn es ums wirtschaftliche Überleben geht, fällt es schwer, nicht nur an Unternehmen und Marke, sondern auch an die Menschen – Mitarbeiter, Kunden UND Gesellschaft – zu denken. Genau das ist aber notwendig in diesen Zeiten, in denen Haltung und Zusammenhalt gefragt sind. Was wir brauchen, um unser System neu zu denken, geht über den vor der Krise vielgewünschten „Purpose“ hinaus. Denn Purpose richtet sich zwar auf den höheren Sinn einer Organisation, denkt diesen aber markenbezogen und instrumentalisiert ihn vorrangig für die Brand. Augenblicklich aber ist „Attitude“ notwendig – im Sinne einer gemeinschaftlichen Haltung, die auch darauf gerichtet ist, mittels Marke und Unternehmen Zugang zur Zukunft zu schaffen. Wobei dieser „Zukunftszugang“ sowohl individuelle Hilfe für Einzelne als auch die Förderung des gesellschaftlichen Neustarts sein kann. Was das genau ist und wie es im Detail funktioniert, muss jede Marke für sich erarbeiten. Aber generell kann man sagen, dass USPs in Zukunft anders definiert werden: Von der Unique Selling Proposition zur Unique Social Proposition.
2. In der Krise gewinnen Innenwelt-Marken, die Lebenserleichterung versprechen
Die horizontale Achse bezieht sich auf das Markenversprechen für die Kunden und wäre normalerweise eine „neutrale“ Achse, in der es darum geht, ob eine Marke eher Nutzwert oder eher Mehrwert offeriert – was an ihrer Branche, ihrem Leistungsangebot und ihrer Positionierungsentscheidung liegt. Erstaunlicherweise ist die Benefit-Achse aber nun in der Corona-Krise alles andere als neutral, weil hier die „Systemrelevanz“ als neue Komponente ins Spiel kommt. Denn ob eine Marke aktuell als wertig empfunden wird, hängt davon ab, ob ihr Kunden-Versprechen sich auf Innen- oder Außenwelt richtet. Der Zugang zur „Innenwelt“, in der die meisten von uns derzeit im #stayathome vorrangig leben, macht Marken als „Lebenserleichterer“ zu Krisenbegünstigten. Eine Verortung in der „Außenwelt“ hingegen macht Marken eher zu Krisengebeutelten, weil ihr Angebot nicht mehr zugänglich ist oder verzichtbar erscheint. Krisenbegünstigte Innenwelt-Branchen sind Lebensmittel, Entertainment@home und Hard-/Software für den Hausgebrauch. Krisengebeutelte Außenwelt-Branchen sind Luftfahrt, Tourismus, Out-of-home-Kultur, Restaurants sowie Fashion. Natürlich prosperieren auch alle Branchen, die sich im weitesten Sinne mit Lebensschutz beschäftigen, wie Desinfektionsmittelhersteller, Apotheken und Drogeriemärkte, sowie Pharma- und Biotech-Unternehmen. Aber wir wollen uns hier vor allem auf „klassische“ B2B-Marken konzentrieren.
3. Es ist nützlich, die „Attitude“ seiner Marke zu kennen: Held, Helfer, Husar oder Hasardeur?
Innerhalb der Attitude-Branding-Matrix gibt es vier Markenrollen – wobei die beiden in den oberen Quadranten förderlicher für Markenwahrnehmung und Markenwert sind als die in den unteren.
„Helden-Marken“ im rechten oberen Quadranten haben das Glück, dass sie Zutritt zu unserer Innenwelt haben – diese Krisenbegünstigung aber nicht im Sinne von „The winner takes it all“ ausnutzen. Helden handeln verantwortlich und damit menschlich, indem sie die Kraft der Marke nutzen, um individuellen und gesellschaftlichen Zukunftszugang zu schaffen. Hier finden wir Retailer, die ihre „Superhelden“ an der Kasse und auf der Fläche schützen und feiern und eine ermutigende Gemeinschaft mit ihren Kunden bilden – allen voran Lidl, Edeka, Rewe und Aldi. Hier sind auch Anbieter von Sport-/Lern-/Entertainment-Angeboten zu verorten, die ihre Produkte und Dienstleistungen im Lockdown zeitweise zum Nulltarif zugänglich machen oder sogar neue Angebote entwickeln. Viele Versicherer bieten derzeit ihren Versicherten für die Zeit des Lockdowns kostenlosen Zusatzschutz an. Und nicht vergessen werden sollten hier Helden, die ihre Kernkompetenzen zur Krisenüberwindung nutzen, und dabei nicht Profitmaximierung in den Vordergrund stellen wie zum Beispiel Curevac, das Haltung zeigt, indem es die dringend benötigte Impfung gegen Covid-19 für alle und nicht nur für einige zugänglich machen will.
„Helfer-Marken“ im linken oberen Quadranten sind die zweite Art der wichtigen Krisenbewältiger. Sie sind eher die Außenwelt gerichtet und können daher nicht einfach ein systemrelevantes Kernbusiness in der Krise fortschreiben. Im Gegenteil: Helfermarken sind aktuell oft mit massiven Einbußen und Restriktionen konfrontiert – aber entscheiden sich trotzdem, in der Krise zu helfen. Dazu müssen sie oft kreativ umdenken: Stillstehende Arbeits- oder Produktionsressourcen werden sinnvoll „umgenutzt“ oder Kern-Kompetenzen für systemrelevante Anwendungsfelder erweitert. Beispiele: Trigema, Eterna und sogar Louis Vuitton stellen statt Bekleidung Mundschutze her. Bosch entwickelt den Corona-Schnelltest. Volkswagen entlockt seinen 3D-Druckern Bauteile für Beatmungsmaschinen. Und die Initiative #kochenfürhelden vom Berliner Restaurant Tulus Lotrek wurde in kürzester Zeit zu einer auch von der DB unterstützten Graswurzelbewegung, in der Gastronomen unentgeltlich für Krisenhelfer warme Mahlzeiten kochen mit dem, was sonst in den Kühlschränken geschlossener Restaurants verkommen würde.
„Husaren-Marken“ im rechten unteren Quadranten profitieren auf ihre Art natürlich auch von der Krise. Aber nicht unbedingt auf eine Art und Weise, die ihnen Sympathie sichert. Deswegen sind sie faktische Krisensieger und moralische Krisenverlierer. Husaren waren früher eine Truppengattung der Kavallerie, bekannt für schöne Uniformen und von Kindesbeinen an aufs Reiten konditioniert. Bildlich übertragen schreiben Husaren-Marken einfach fort, was sie gelernt haben und schöpfen ab, was ihnen die Krise ins Netz treibt. Doch im Unterschied zu „Helden“ unternehmen sie keine großen Anstrengungen, andere (Mitarbeiter, Kunden oder die Gesellschaft) direkt oder indirekt an diesem Erfolg teilhaben zu lassen und sich aus ihrer Position der Stärke heraus für gemeinschaftlichen Zukunftszugang zu engagieren. Der aktuell prominenteste Husar ist aus unserer Sicht Amazon. Das Vermögen von Jeff Bezos ist dem Bloomberg Billionaires Index zufolge seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden auf 138 Milliarden Dollar gestiegen und gerade wurde die Einstellung von 175.000 neuen Mitarbeitern angekündigt. Zugleich kritisieren laut einem Zeit-Online-Bericht Mitarbeiter in Versandzentren, der Konzern schütze sie nicht ausreichend vor Ansteckung. Amazon widerspricht diesen Anschuldigungen zwar und verweist darauf, man bezahle bis Ende April zwei Euro brutto zusätzlich pro geleistete Stunde in Deutschland und Österreich. Aber wir fragen uns, was Amazon als Krisenprofiteur aktuell sonst noch so für den Zukunftszugang seiner Mitarbeiter und der Gesellschaft tut?
„Hasardeur-Marken“ im linken unteren Quadranten sind die wahren Krisenverlierer. Sie gehören Außenwelt-Branchen an, deren Produkte und Dienstleistungen im Lockdown keinen oder nur wenig Nutzwert haben. Besonders gebeutelt sind hier Schuh- und Modemarken, deren Läden geschlossen und deren Produkte angesichts der „Home-isierung“ Deutschlands weniger gefragt sind. So haben sich H&M, Adidas und Deichmann in den letzten Wochen durch die Ankündigung, Mieten nicht zahlen oder aussetzen zu wollen, ein markentechnisches Eigentor geschossen – gefolgt von durchaus glaubwürdigen Entschuldigungen und Erklärungen. Angesichts des wirtschaftlichen Drucks einerseits verständlich. Angesichts des verspielten Markenvertrauens andererseits zumindest eine eher rückwärts gerichtete Herangehensweise an die Krise. Selbst im Onlinehandel bekommt die Modebranche die Coronakrise deutlich zu spüren. Zalando hat in den ersten drei Monaten des Jahres laut seiner vorläufigen Zahlen rund Hundert Millionen Euro Verlust eingefahren. Es mutet fast wie eine Ironie des Schicksals an, dass die in Rekordzeit und remote produzierte neue Kampagne, die die zahllosen Heimsportler feiert, mit dem Slogan “Together I am strong” an den Start geht. Denn hier wird immer noch das „Ich“ gefeiert. Echte Togetherness, die den Aufstieg vom Hasardeur zum Helfer erlaubt, feiert aber das „Wir“.
4. Die Attitude-Branding-Matrix soll abbilden – aber vor allem anspornen!
Normalerweise lieben wir es, solange an Denk- und Markennüssen zu knacken, bis sie geöffnet sind, Hintergründe und Hebel offen zutage treten und die Welt fassbar wird. Und dann kommt eine Matrix oder ein Framework als Fixstern des Denkens und Leitplanke des Handelns. Aber angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Corona-Krise die (Marken-)Welt gewandelt hat, halten wir es diesmal für angemessen, mit der Attitude-Branding-Matrix anders umzugehen, als wir das sonst täten. Denn hier sind zwei Dinge anders als vor der Krise:
Erstens bewegen sich Markt und Marken aktuell ziemlich schnell. Daher ist eine eindeutige Zuordnung zu den vier Attitude-Rollen teilweise schwierig. Zwischen der Förderung von Zukunftszugang und dem Versuch der Zementierung von Marktmacht ist ein breiter Mittelkorridor entstanden. Denn natürlich müssen Selbstrettung und Gesellschaftshilfe im Verhältnis stehen. Ein gemeinschaftliches Engagement für Zukunftszugang von Marken ist wunderbar – kann aber nur geleistet werden, wenn Marke und Unternehmen sich dies leisten können. Wie Trigema-Chef Wolfgang Grupp angesichts der Kritik am Preis seiner Schutzmasken im Welt-Interview sagt: „Ich habe gerne geholfen, aber ich kann die Masken nicht verschenken.“
Zweitens möchten wir die Matrix ausdrücklich als Ansporn verstanden wissen, die eigene Marke und ihre Möglichkeiten zu hinterfragen. Es mag nicht jede Marke in einem großen Sprung in Richtung Zukunftszugang hechten. Aber es wäre schön und sinnvoll, wenn jede Marke zumindest darüber nachdenken würde, welche Schritte weg von der „alten“ Welt mit ihrem Fokus auf Marktmacht sie sich leisten kann. Und wieviel „Held“ oder „Helfer“ in ihr steckt – oder mit etwas kreativem Umdenken und neuem Handeln stecken könnte.
Denn wir sind der festen Überzeugung:
Mehr Zukunftszugang zahlt sich aus. Für Marken und für Menschen.
Produktive Krisennutzung halt, statt destruktiver Katastrophenklage. Danke, Max Frisch!